Theaterkritik

Schlummertrunkästhetik - Urs Troller inszeniert Schillers ‚Kabale und Liebe' am Bochumer Schauspielhaus

Kabale und Liebe - Ein bürgerliches Trauerspiel: zunächst revolutionär (wider alle Fallhöhentheorie des klassischen Dramas) nach der bürgerlichen Hauptfigur "Luise Millerin" geheißen, dann umbenannt; historisch fundiert die Figuren aus der Adelswelt, die Bösewichte, ihre Charaktere, Haltungen und Handlungen feudaler Willkür bei gleichzeitiger Idealisierung der bürgerlichen Lebenswelt; vordergründig ein Plädoyer für die Liebe wider alle Standesschranken. Schillers Rundumschlag gegen das höfische Intrigantentum verleiht dem Stück eine hochgradig gesellschaftliche und politische Brisanz: Einem entsetzten Aufschrei der be(ge)troffenen feudalen Oberschicht folgt ein beim Herzog erwirktes sofortiges Aufführungsverbot des "Skandalstückes" - doch das war Ende des 18. Jahrhunderts. Seitdem hat sich einiges getan, und wir finden gegen Ende des 20. Jahrhunderts veränderte politische und gesellschaftliche Verhältnisse vor.

Dennoch ist die zeitgschichtliche Relevanz, die die Bochumer Inszenierung der angestaubten dramatischen Vorlage entlockt, bemerkenswert. Der Schillersche Ständekonflikt auf der gesellschaftlichen Ebene, der Vater-Sohn bzw. Vater-Tochter-Konflikt und das Beziehungsgerangel zwischen Luise und Ferdinand auf der zwischenmenschlichen Ebene kulminieren in der grundlegenden wie zeitlosen Kommunikationsproblematik. Es prallen mit den beiden Gesellschaftsgruppen zwei grundverschiedene Welten aufeinander, deren Gegensätze schier unüberwindlich scheinen: auf der einen Seite die moralisch-religiösen Anschauungen verhafteten, rechtschaffenen Bürger (Musikus Miller und Frau), auf der anderen Seite der verruchte, machtbesessene Adel, dem jedes Mittel zur Erlangung dieser Macht recht ist (verkörpert durch die Intriganten Präsident von Walter und dessen Sekretär Wurm) und dazwischen, sozusagen im Auge des Sturms (im Wasserglas), die von keinem der beiden Lager geduldete Verbindung der bürgerlichen Luise mit Ferdinand, dem Präsidentensohn. Der Einsatz der Adels-Intrige als Vehikel zur Durchsetzung einer Trennung der Liebenden geht aus kommunikativer Sicht unter die Gürtelinie und macht eine konfliktentschärfende oder gar -lösende Verständigung zwischen den beiden Blöcken der Adels- und Bürgerwelt unmöglich. Einzig das Mißtrauen wird verschärft. Es macht sich eine vergiftete, kalte Kriegsatmosphäre breit, eine Entspannung des Konflikts verhindernd. In weite Ferne rückt der Abbau der Gegensätze angesichts der in starren Werthaltungen und Einstellungen verharrenden Figuren. Sie sind in sich selbst gefangen: Statik statt Dynamik dominiert.

Wie im Innern so auch außen: Der künstliche Bühnenraum (Susanne Raschig) gleicht in seiner geometrischen quaderhaften Aufteilung einem Schachbrett, auf dem die Figuren wie von unsichtbarer Hand marionettengleich hin und her, von einem Planquadrat zum nächsten, von einer Personenkonstellation in die andere gezogen werden. Eine starre, sachliche Choreografie, die seziererisch das strategische Kalkül der Figuren offenlegt und mit ihren unflexiblen Werthaltungen korrespondiert. Das permanente Halbdunkel, das die Figuren bedeutungsschwanger umschließt, verdeutlicht deren begrenzte Horizonte und antizipiert die herannahende Katastrophe. Starker seitlicher Lichteinfall zerschneidet die Düsternis scharf und bildet auf dem Bühnenboden grelle Lichtstraßen, auf denen die Figuren wandeln, als wären es gleichsam geistige Bahnen, die Konstituenten ihres starren Rollenverhaltens. Mehr noch in der Farbsymbolik als in der scharfen Hell-Dunkel-Kontrastierung werden die unüberbrückbaren Gegensätze der beiden Seiten konsequent zum Ausdruck gebracht.

So ist der den abstrakten Kunstraum ausfüllende Rot-Grün-Kontrast ein komplementärer und als solcher ein in seiner Intensität nicht mehr steigerbarer Farbgegensatz. Symbolträchtig werden die Farben den sozialen Schichten zugewiesen: das ärmlich anmutende Grün der Bürgerseite (im vorderen rechten Bühnendrittel) und das Verschwendung und Überfluß implizierende Rot dem Adel (im hinteren rechten Bühnendrittel). Vorne rechts befindet sich eine Art Podest, das sowohl von der Adels- als auch der Bürgerseite genutzt wird, sozusagen als einzige Gemeinsamkeit auf der formal-gestalterischen Ebene.

Die Requisite ist spärlich und besteht zum überwiegenden Teil aus Stühlen, deren Anordnung ebenfalls die Idee des Gegensätzlichen zugrundeliegt: die feudalen, rot gepolsterten Stühle im adligen Lager sind zunächst in strenger Reihe an verschiedenen Wänden aufgebaut. Das einen Blickkontakt verhindernde starre Nebeneinander der Stühle oder die zuweilen immense Distanz zwischen einander gegenüber stehenden Stühlen vermitteln den dialogisierenden Gesprächspartner keine Nähe des jeweils anderen. Sie zeigen soziale, emotionale und kommunikative Barrieren an. Später, wenn die Maske des adligen Scheins abgerissen und Ferdinands (durch höfische Intrige geweckten) Zweifel an Luises Liebe auf dem Höhepunkt sind, befinden sich auch die Stühle, umgeworfen und durcheinander, in chaotischer Anordnung, das Seelenleben Ferdinands und den allgemeinen Zustand der Adelswelt widerspiegelnd (und stark an diverse Andrea-Breth-Inszenierungen erinnernd). Auch in der bürgerlichen Ecke stehen sich zwei Stühle nie direkt gegenüber, was zudem die Distanz und das Unverständnis der Figuren selbst innerhalb einer sozialen Gruppe verdeutlicht.

Die Kostüme (Dorothea Katzer), in dieser Aufführung historisch angelegt, signalisieren in ihrer Unterschiedlichkeit die soziale Kluft zwischen Adel Bürgertum und daneben, ebenfalls interessant, die Charaktereigenschaften und Haltungen ihrer Träger. So zeigen die engen schwarzen Uniformen der höfischen Herren die Gefangenheit ihres Denkens in traditionellen Wertmaßstäben und die Zwanghaftigkeit ihres Verhaltens an. Lady Milford, Mäträsse am Hofe und in der dramatischen Vorlage eine schillernde Figur, ist mit einer schwarz-roten Robe bekleidet. Die Versachlichung der Figur Rechnung tragend, ist das feudale, lasterhafte Rot stark abgetönt, zugunsten eines dominanten Schwarz, das als Todessymbol die Zweifel der Milford an ihrer Mitschuld am Tode der in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg verschickten Landeskinder ausdrückt. Luise, ein schlichtes blaues Kleid tragen, möglicherweise ein Indiz für treue Ergebenheit in die herrschende göttliche Weltordnung, ist zudem mit einem weißen, kindlich unschuldigen Schal versehen, den sie auch schon mal ablegt, wenn der Ferdinand vorbeischaut. Ferdinand hat mit seinem langen Mantels am schwersten an Pflichterfüllung und Loyalität dem Vater gegenüber zu tragen. Mit Fortgang der Handlung und zunehmender Verzeifelung entledigt er sich der Reihe nach seines Mantels, der Weste und zuletzt der Perücke. Am Ende irrt er nur noch mit einem Pferdeschwanz durch die Schlußszenerie bis er mit geöffneten Haaren und im Lotterhemd am Limogift zugrundegeht.

Die Figuren fügen sich mehr oder minder gut in das strenge, stark versachlichende Regiekonzept Urs Trollers ein. In jedem Fall ist der Handlungsspielraum der Schillerschen Gestalten und somit auch der Aktionsradius der Schauspieler zugunsten einer unterkühlten, semiotischen Gesetzen folgenden Staffagenkultur beschnitten. Die Milford (Angela Schmid) - keine mondäne Hofdame wie noch bei Schiller, eher eine zweifelnde, blasse Gestalt, die ziel- und haltlos von einer Bühnenwand zur nächsten wankt; hätten sie und die Kammerzofe unterdes die Rollen heimlich getauscht, es wäre wohl niemandem weiter aufgefallen.

Die Intriganten Präsident von Walter (Georg-Martin Bohde) und Sekretär Wurm (Armin Rohde) - trocken wie ein Heeresbericht das Intrigenspiel der höfischen Bösewichte; Wurm, kein Speichellecker, vielmehr eine tragische Gestalt, die ihn als Nebenbuhler Ferdinands glaubhafter erscheinen läßt.

Ferdinand (Stefan Hunstein) - ein selbstverliebter Warmsporn; seine sporadischen Gefühlsausbrüche wirken aufgesetzt, deshalb albern; "eine große Seele oder von Sinnen?" - eher letzteres.

Millerin (Brigitte Kahn) - keine dumme Nuß wie noch bei Schiller.

Miller (Wolfgang Feige) - eine patriarchale Gestalt, die mehr für die Tochter als für die eigene Frau eingenommen scheint; überzeugend als gebrochener alter Mann dargestellt, dem das Liebste genommen werden soll - eine gelungene Mischung aus Zweifel- und Trotzhaltung.

Luise (Annelore Sarbach) - als blondes kulleräugiges Irrlicht orientierungslos und doch unerschütterlich in ihrem Gottvertrauen; leider hört der Theaterbesucher nicht weniger als 41 Mal aus dem Munde der Sarbach statt eines aussprachetechnisch harmlosen Vaters ein enervierendes Voter; welche Mundart sie auch immer in ihrem privaten Kreis pflegen mag, auf der Bühne, zumal einer westfälischen, ist so etwas einfach fehl am Platz, zumal der semiotische Gehalt der Sarbachschen Os gleich Null ist.

Kabale und Liebe in Bochum: (K)ein inszenatorisches Trauerspiel - eine stille Inszenierung, die in einer auf spektakuläre Knalleffekte und pflegeleichte Konsumierbarkeit ausgerichteten Welt und speziell Medienlandschaft, dem Zuschauer Sensibilität der Wahrnehmung und Gespür für das Detail abverlangt. Also einiges - wenig Selbstverständliches. Dennoch kann es sich der Zuschauer (in alter Kritikermanier) leicht machen und sagen: "Die Aufführung war schlecht, denn ich habe mich gelangweilt." Nichts einfacher als das. Und das Gähnen im Publikum scheint das schnelle Urteil zu begünstigen: Am Ende eines langen Tages, nachdem es Ferdinand nun auch geschafft hat und endlich leblos zu Füßen seines Vaters liegt, reicht die Kraft nur noch zu einem müden Achtungsapplaus, der schlicht die Gedächtnisleistung der Schauspieler zu honorieren scheint. Das Ende einer fast vierstündigen Geduldsprobe für so manchen Zuschauer. Vielleicht hätte ja eine Matinee-Vorstellung der Aufführung besser getan!? Aber leider haben wir, um es mit Nietzsche zu sagen, "das Gewissen eines arbeitssamen Zeitalters: dies erlaubt uns nicht, die besten Stunden und Vormittage der Kunst zu geben, und wenn diese Kunst selber die größte und würdigste wäre. Sie gilt uns als Sache der Muße, der Erholung: wir weihen ihr die Reste unserer Zeit, unserer Kräfte." Wie wahr!

© Birgit Wisniewski



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